Donnerstag, Mai 21, 2015

Friede, Liebe, la-la-la

Noch nie hat ein Song die Welt verändert. Das ist aber auch beim Song Contest kein Grund, es nicht trotzdem zu versuchen.

Laut Regelwerk der European Broadcasting Union ist die Angelegenheit einfach – und der Eurovision Song Contest eine unpolitische Sache. „Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt. Dies gilt ebenso für Texte oder eine Bühnenshow, die den Wettbewerb allgemein in Misskredit bringen könnten oder Werbung für Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen machen.“ Das ist einerseits gut, da den musikalisch überwiegend wertlosen Wettbewerbssongs kaum zuzutrauen ist, mit politischen Lyrics mehr in Bewegung zu bringen als Kinnladen, die steil nach unten klappen oder Handflächen, die auf die Stirn aufklatschen. Ralph Siegel darf nicht Barack Obama werden! Andererseits bleibt so mehr Raum für die symbolische Bedeutungsebene, die ohnehin spannender und teils auch unterhaltsamer ist als die schnöde Realpolitik der harten Fakten. Niemand wird das Ausbleiben politischer Begleitumstände ja ernsthaft erwarten, wenn dutzende Nationen im Rahmen eines Wettstreits aufeinandertreffen.

Mit Augenaufschlag

Im Vorjahr standen die Voraussetzungen auf der Metaebene zum Beispiel besonders „günstig“. Immerhin galt es, dem als wildes Putinstan empfundenen Russland aus dem traditionell weltoffenen, LGBT-affinen Herzen des Song-Contest-Imperiums mit dem Schwert der Liebe zu begegnen. So wenig dann aber die Buhrufe und Pfiffe für den russischen Beitrag diesem selbst oder seinen Interpretinnen geschuldet waren, so wenig war auch „Rise Like A Phoenix“ alleine dafür ausschlaggebend, dass es Conchita in Kopenhagen gelang, uns den Schas zu gewinnen. Nur das Gesamtpaket der Wurst als Botschafterin liberaler (westlicher) Werte im Zeichen von Offenheit und Toleranz bei gleichzeitigen homophoben Zwischentönen von Krokodilen aus Moskau war zum richtigen Zeitpunkt der richtige Schlüssel für die richtige Tür – hinter der es nun weitergeht: Mit „Building Bridges“ soll diesen Umstand nicht zuletzt das Motto des heurigen Song Contests erklären, der nun also vom Schmelztiegel Wien aus etwa gleich nach Rumänien führt.

Die 1982 in Bukarest gegründete Band Voltaj beispielsweise thematisiert mit ihrem Beitrag die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die in der Heimat verbliebenen Kinder. Für Frankreich übersetzt Lisa Angell ihre Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg in eine zeitlose Botschaft („Nʼoubliez pas“, „Vergesst nicht!“). Das „Don’t Deny“ („Leugne nicht!“) von Genealogy war vor dem Hintergrund der aktuell wieder aufflammenden Debatte über den heute auch von Papst Benedikt XV. beim Namen genannten Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 aber bereits wieder zu viel für den Bewerb – und schnell durch den Titel „Face The Shadow“ ersetzt. In Hinsicht auf Putinstan ist festzuhalten, dass es heuer abermals zu Buhrufen kommen könnte. Das auf Friedensbotschaft gestimmte „A Million Voices“ von Polina Gagarina, der russischen Gagafrau ohne schwule beste Freunde, Lack-, Leder- und Fleischkostümierung und anderweitigem Pfuigack, kommt zwischen Musical-Pathos und dem Augenaufschlag einer Unschuld in weiß als Beschwichtigungshymne daher. Liebesgrüße aus Moskau! Wir sind okay!

Agitations-Materialisierung

Noch kein Song hat die Welt in ihren Grundfesten erschüttert oder im Anschluss sonstwie verändert. Das ist aber auch beim vom Regelwerk her auf ein generelles Bekenntnis zu Frieden, Respekt und Verständnis beschränkten Song Contest kein Grund, es nicht trotzdem zu versuchen. Immerhin ist man sich hier einer Community im Hintergrund sicher, die den Möglichkeiten des Songs, zu sensibilisieren, Aufmerksamkeit zu generieren und im Moment über erhebliche Wir-Gefühle ein Feuer zu entfachen, noch mit etwas mehr Glauben begegnet. Man darf jetzt aber auch an Nicole denken, die man bei „Ein bißchen Frieden“ rund sieben Jahre vor dem Mauerfall (auf heute kaum wiederholbare Weise) so singen ließ: „Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel. Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt.“ Als Reaktion aus dem Underground setzte es damals das zynische „Ein bißchen Krieg“ („Wir wollen in den Krieg! Ein Krieg, so dreckig wie noch nie!“) von Robert Görl und Gabi Delgado-López alias Deutsch Amerikanische Freundschaft. Man darf das als typisch für die Reibung bezeichnen, die in den 80er Jahren als Zwitterjahrzehnt zwischen popkulturellem Yuppietum und wirtschaftlichem Aufschwung einerseits sowie einer künstlerisch noch denkbaren Formenerweiterung und Rebellion und den Schatten des Kalten Krieges andererseits möglich war. Damals formierten sich mit Bob Geldofs „Live Aid“-Benefiz und den Band-Aid-Charity-Aufnahmen auch die bis heute finanzstärksten Weltverbesserungsinitiativen der Musikgeschichte, die allfällige Agitationsmomente von Songtexten in ein konkretes Tun materialisierten.  

Kämpfe? Unterhaltung!

Der Blues hatte das Lamento (angesichts der Arbeit am Baumwollfeld und keiner Auswege), der Folk die zarte Anklage (angesichts etwa entweder keiner oder zu viel Arbeit und letzteres für zu wenig Geld und ohne Arbeitnehmerrechte), und Bob Dylan hatte die Wirkungsmacht der literarischen Textierung, die ihm ungewollt die Rolle eines „Sprachrohrs“ aufdrängte, der er erst als elektrifizierter Rock-’n’-Roll -„Judas“ wieder entkam. Zahllose junge Männer mit langen Bärten und Hang zu Haschisch folgten ihm nach. Sie wurden in einer säkularisierten Welt von New Yorker Kaffeehäusern aus zu Ersatzpredigern, die wie Cat Stevens über steinige Straßen, weite Täler und hohe Berge sangen, über Wege also, die keine leichte waren. Eine Veränderung der Verhältnisse zum Besseren erschien möglich. Weil in der Popkultur als Bezugssystem alles auf alles reagiert, mussten derlei Singer-Songwriter-Sensibilitäten und der parallel dazu grassierende, außer dem eigenen Hedonismus bald nur mehr dem eigenen Hedonismus verpflichtete Dinosaurier-Rockismus mit einer schallenden Ohrfeige durch den trotzigen Nihilismus des Punk abgelöst werden, der auch in Momenten ohne dezidierte politische Botschaft hochpolitisch war, sich aber nicht nur im Umfeld der Hausbesetzerszene konkretisierte. Über die 80er Jahre ist alles gesagt. Und nach dem Mauerfall wurde mit Techno der bis heute letzte große popmusikalische Einschnitt zum eskapistischen Soundtrack des Aufbruchs in die Freiheit. Für diesen brauchte es keine Worte mehr, nur ein auf ewig laufendes Nts-nts durch die Nacht, durch die zweite Nacht und die dritte …

Das allgemeine Bewusstsein sagt: Kein Song hat die Welt jemals verändert. Vermutlich werden einstige Bemühungen, es „Give peace a chance!“-technisch trotzdem zu versuchen, längst bestimmt genug dem Reich der naiven Kunst zugeordnet, dass Popmusik, abgesehen vielleicht noch am ehesten von der Gender-Thematik, heute überhaupt keinen Kampf mehr führt (führen muss/führen kann). Ausgerechnet dem Song Contest steht somit eine Spielwiese offen. Die Bedeutung, das Gewicht und die Botschaft gehen zu Boden. Sie finden sich auf den Brettern – und in den Fangarmen – einer gemeinhin belächelten Unterhaltungsshow im Rampenlicht wieder.

(Wiener Zeitung, 22.5.2015) 

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