Noch nie hat ein
Song die Welt verändert. Das ist aber auch beim Song Contest kein Grund, es
nicht trotzdem zu versuchen.
Laut
Regelwerk der European Broadcasting Union ist die Angelegenheit einfach – und der
Eurovision Song Contest eine unpolitische Sache. „Texte, Ansprachen und Gesten
politischer Natur sind während des Contests untersagt. Dies gilt ebenso für
Texte oder eine Bühnenshow, die den Wettbewerb allgemein in Misskredit bringen
könnten oder Werbung für Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen machen.“
Das ist einerseits gut, da den musikalisch überwiegend wertlosen
Wettbewerbssongs kaum zuzutrauen ist, mit politischen Lyrics mehr in Bewegung
zu bringen als Kinnladen, die steil nach unten klappen oder Handflächen, die
auf die Stirn aufklatschen. Ralph Siegel darf nicht Barack Obama werden! Andererseits
bleibt so mehr Raum für die symbolische Bedeutungsebene, die ohnehin spannender
und teils auch unterhaltsamer ist als die schnöde Realpolitik der harten Fakten.
Niemand wird das Ausbleiben politischer Begleitumstände ja ernsthaft erwarten, wenn
dutzende Nationen im Rahmen eines Wettstreits aufeinandertreffen.
Mit
Augenaufschlag
Im
Vorjahr standen die Voraussetzungen auf der Metaebene zum Beispiel besonders „günstig“.
Immerhin galt es, dem als wildes Putinstan empfundenen Russland aus dem
traditionell weltoffenen, LGBT-affinen Herzen des Song-Contest-Imperiums mit
dem Schwert der Liebe zu begegnen. So wenig dann aber die Buhrufe und Pfiffe
für den russischen Beitrag diesem selbst oder seinen Interpretinnen geschuldet
waren, so wenig war auch „Rise Like A Phoenix“ alleine dafür ausschlaggebend,
dass es Conchita in Kopenhagen gelang, uns den Schas zu gewinnen. Nur das
Gesamtpaket der Wurst als Botschafterin liberaler (westlicher) Werte im Zeichen
von Offenheit und Toleranz bei gleichzeitigen homophoben Zwischentönen von
Krokodilen aus Moskau war zum richtigen Zeitpunkt der richtige Schlüssel für
die richtige Tür – hinter der es nun weitergeht: Mit „Building Bridges“ soll
diesen Umstand nicht zuletzt das Motto des heurigen Song Contests erklären, der
nun also vom Schmelztiegel Wien aus etwa gleich nach Rumänien führt.
Die
1982 in Bukarest gegründete Band Voltaj beispielsweise thematisiert mit ihrem
Beitrag die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die in der Heimat
verbliebenen Kinder. Für Frankreich übersetzt Lisa Angell ihre Beschäftigung
mit dem Ersten Weltkrieg in eine zeitlose Botschaft („Nʼoubliez pas“, „Vergesst
nicht!“). Das „Don’t Deny“ („Leugne nicht!“) von Genealogy war vor dem
Hintergrund der aktuell wieder aufflammenden Debatte über den heute auch von
Papst Benedikt XV. beim Namen genannten Genozid an den Armeniern in den Jahren
1915 und 1916 aber bereits wieder zu viel für den Bewerb – und schnell durch
den Titel „Face The Shadow“ ersetzt. In Hinsicht auf Putinstan ist festzuhalten,
dass es heuer abermals zu Buhrufen kommen könnte. Das auf Friedensbotschaft gestimmte
„A Million Voices“ von Polina Gagarina, der russischen Gagafrau ohne schwule
beste Freunde, Lack-, Leder- und Fleischkostümierung und anderweitigem Pfuigack,
kommt zwischen Musical-Pathos und dem Augenaufschlag einer Unschuld in weiß als
Beschwichtigungshymne daher. Liebesgrüße aus Moskau! Wir sind okay!
Agitations-Materialisierung
Noch
kein Song hat die Welt in ihren Grundfesten erschüttert oder im Anschluss
sonstwie verändert. Das ist aber auch beim vom Regelwerk her auf ein generelles
Bekenntnis zu Frieden, Respekt und Verständnis beschränkten Song Contest kein
Grund, es nicht trotzdem zu versuchen. Immerhin ist man sich hier einer
Community im Hintergrund sicher, die den Möglichkeiten des Songs, zu
sensibilisieren, Aufmerksamkeit zu generieren und im Moment über erhebliche Wir-Gefühle
ein Feuer zu entfachen, noch mit etwas mehr Glauben begegnet. Man darf jetzt aber
auch an Nicole denken, die man bei „Ein bißchen Frieden“ rund sieben Jahre vor
dem Mauerfall (auf heute kaum wiederholbare Weise) so singen ließ: „Ich weiß,
meine Lieder, die ändern nicht viel. Ich bin nur ein Mädchen, das sagt,
was es fühlt.“ Als Reaktion aus dem Underground setzte es damals das zynische
„Ein bißchen Krieg“ („Wir wollen in den Krieg! Ein Krieg, so dreckig wie noch
nie!“) von Robert Görl und Gabi Delgado-López alias Deutsch Amerikanische
Freundschaft. Man darf das als typisch für die Reibung bezeichnen, die in den 80er
Jahren als Zwitterjahrzehnt zwischen popkulturellem Yuppietum und
wirtschaftlichem Aufschwung einerseits sowie einer künstlerisch noch denkbaren
Formenerweiterung und Rebellion und den Schatten des Kalten Krieges
andererseits möglich war. Damals formierten sich mit Bob Geldofs „Live
Aid“-Benefiz und den Band-Aid-Charity-Aufnahmen auch die bis heute
finanzstärksten Weltverbesserungsinitiativen der Musikgeschichte, die
allfällige Agitationsmomente von Songtexten in ein konkretes Tun
materialisierten.
Kämpfe?
Unterhaltung!
Der
Blues hatte das Lamento (angesichts der Arbeit am Baumwollfeld und keiner
Auswege), der Folk die zarte Anklage (angesichts etwa entweder keiner oder zu
viel Arbeit und letzteres für zu wenig Geld und ohne Arbeitnehmerrechte), und Bob
Dylan hatte die Wirkungsmacht der literarischen Textierung, die ihm ungewollt die
Rolle eines „Sprachrohrs“ aufdrängte, der er erst als elektrifizierter Rock-’n’-Roll
-„Judas“ wieder entkam. Zahllose junge Männer mit langen Bärten und Hang zu
Haschisch folgten ihm nach. Sie wurden in einer säkularisierten Welt von New
Yorker Kaffeehäusern aus zu Ersatzpredigern, die wie Cat Stevens über steinige
Straßen, weite Täler und hohe Berge sangen, über Wege also, die keine leichte
waren. Eine Veränderung der Verhältnisse zum Besseren erschien möglich. Weil in
der Popkultur als Bezugssystem alles auf alles reagiert, mussten derlei
Singer-Songwriter-Sensibilitäten und der parallel dazu grassierende, außer dem
eigenen Hedonismus bald nur mehr dem eigenen Hedonismus verpflichtete Dinosaurier-Rockismus
mit einer schallenden Ohrfeige durch den trotzigen Nihilismus des Punk abgelöst
werden, der auch in Momenten ohne dezidierte politische Botschaft hochpolitisch
war, sich aber nicht nur im Umfeld der Hausbesetzerszene konkretisierte. Über
die 80er Jahre ist alles gesagt. Und nach dem Mauerfall wurde mit Techno der
bis heute letzte große popmusikalische Einschnitt zum eskapistischen Soundtrack
des Aufbruchs in die Freiheit. Für diesen brauchte es keine Worte mehr, nur ein
auf ewig laufendes Nts-nts durch die Nacht, durch die zweite Nacht und die dritte
…
(Wiener Zeitung, 22.5.2015)
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