Freitag, Juni 05, 2015

Zitteraale mit Schleudertrauma

Seit Donnerstag findet auf der Donauinsel erstmals das Festival Rock in Vienna statt.

Rockfestivals sind eine erwartbare Sache. Man kann davon ausgehen, dass es neben stinkertem Fast Food, überteuertem Bier, als Ali-G-Alter-Ego Borat im Stringtanga verkleideten Freaks und ab spätestens 15 Uhr stockbesoffenen Kindern mit lustigen T-Shirts auch Musik gibt, die immer die gleiche ist. Dem Nova-Rock-Festival im burgenländischen Nickelsdorf sei Dank erlebt man im Juni traditionell Konzerte von Motörhead, Slayer und Metallica (wenn alles gut geht) sowie von den Toten Hosen, Marilyn Manson und Mötley Crüe (wenn man Pech hat). Auf jeden Fall ist man drei Tage wach und danach „wach“ im wienerischen Sinn, also ungefähr so paniert wie ein Schnitzel, das man im Schweizerhaus vor dem Bier-Obstler-Menü als Magenschutz nimmt.

0,5 Liter Soda: 5 Euro

Das als Konkurrenz zum seit 2005 am Markt etablierten Nova Rock aus dem Hause Skalar Music, dem Platzhirschen der heimischen Veranstalterszene, nun erstmals ausgetragene Rock in Vienna weicht auf seinem Areal nicht vom Üblichen ab. Es gibt die gleichen Fress- und Erfrischungsbuden wie im Burgenland, wobei Bier und Soda (!) heuer fünf Euro ohne Becherpfand kosten, und neben dem Bungee-Jump-Kran auch ein Piercingzelt. Wie man an den Nova-Rock-Headlinern dieser Saison erkennt – Slipknot (Haha!), Mötley Crüe (Mein Gott!), Die Toten Hosen (Warum?) –, hat sich das Rock in Vienna mit Metallica, Muse und Kiss auch die wichtigsten möglichen Bands ausgeborgt. Als Alleinstellungsmerkmal fallen zunächst also die „wassergespülten Toiletten“ anstelle der Dixi-Klos auf, bevor die beiden nebeneinander stehenden und abwechselnd statt gleichzeitig bespielten Bühnen zwar das etwas schmälere Line-up erklären, dafür aber auch zu exakt keinem Gehweg und nur sehr kurzen Konzertpausen führen.

Ahja, und natürlich befindet man sich nicht auf einem Acker in der Provinz, sondern auf der Donauinsel – also beinahe noch inmitten der Wienerstadt! Das bedeutet neben der bequemen An- und Abreise per U6 und einem einzuhaltenden Zapfenstreich um 23 Uhr auch, dass die Bevölkerung im Social Media drin reagieren muss. Von Ottakring aus wird eine Baustelle vermutet (heast, das sind Metallica!). Und auch näher an der Donauinsel regiert nicht nur Dankbarkeit ob der Gratiskonzerte, die man von zuhause am Balkon bei wesentlich günstigeren Getränken erleben darf. Vermutlich wird es noch eine Weile dauern, bis der Veranstalter die bezüglich „I wü schlofn!!“ zum Wutbürgertum neigenden Postings abgearbeitet, also in den Papierkorb verschoben hat. Gott sei Dank gibt es kein Twitter für Fische. Gestern noch Wels, heute schon Zitteraal!

Aus der Muckibude

Musikalisch ist zu bemerken, dass man am eröffnenden Donnerstag eineinhalb Gründe findet, zum Rock in Vienna zu fahren. Nach dem Nachmittagsprogramm, das nicht dazugehört, ist auf der mit Doktor Freud geschmückten „Mind Stage“ auch keineswegs die Band A Day To Remember gemeint, deren Sänger uns noch die vielleicht trippledeutige Frage „Vienna, are you fucking with me??“ stellen wird. Nein. Also ja! Der seine Freizeit offensichtlich zwischen Muckibude und Peckerlzelt verbringende Sänger der Broilers aus Düsseldorf, denen man aus Versehen den vorletzten Slot geschenkt hat, spricht nicht nur vergleichsweise schön, was aber kaum darüber hinwegtäuscht, dass seine Band zwischendurch auch an die Toten Hosen erinnert. Lieder der Broilers heißen „Ich will hier nicht sein“ (Ja, aber woher wisst ihr das?) und „Ich holʼ dich da raus“ (Danke!).

Zum Glück gibt es davor noch Faith No More zu erleben, die auch angesichts der Erscheinung ihres Frontmanns Mike Patton und dessen grimmiger, wenn auch ironisch gebrochen in Richtung offene Psychose gehender Performance nur leider nicht bei Doktor Freud, sondern auf der mit Gustav Klimts Adele geschmückten „Soul Stage“ stehen. Hier wird mit Stücken wie „Motherfucker“ und „Matador“ nicht nur aus „Sol Invictus“, dem ersten Album der Band seit 18 Jahren gereicht. Im Rahmen einer von der Wirtschaftskrise mitbegünstigten Comebacktour erlebt man Patton nach Jahren der Experimental-Spinnerei gemeinsam mit den alten Kollegen auch wieder im Zeichen eines Rap, Metal und Wahnsinn fusionierenden Rockentwurfs, der für die 90er Jahre zentral war. Wobei die Bandbreite mit Faith No More eigens für den Österreichtermin in Krachleder vor einer zwischen Orgien-Mysterien-Weiß und Blumenbouquet-Überschuss gehaltenen Bühne von begrunztem Schwurbelfunk bis hin zum Commodores-Cover „Easy“ reicht, das man in Anspielung auf Metallica mit der Frage ankündigt, ob das Publikum bereit für den harten Stoff sei. Harr!       

Kreiiiiischgitarren

Metallica selbst erweisen sich mit ihrem jährlichen Österreichgastspiel als gewohnt würdige Headliner. Und, Sensation, mit Stücken wie „No Remorse“, „King Nothing“ oder „The Frayed Ends Of Sanity“ wird die gewohnte Konzertabsolvierungsschablone der letzten Jahre beiseitegelegt und das erhöhte Tempo zwischen Massakerstakkato und Kreiiiischgitarren zur Doublebassdrum sehr adäquat mit Live-Videos übersetzt, die ungefähr im Nanosekundentakt die Einstellung wechseln. Der Graubereich zwischen Schwindel und Schleudertrauma heißt Rock ’n’ Roll. Gib! Ihm!

(Wiener Zeitung, 6./7.6.2015)

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