Tocotronic
zeigen sich mit ihrem biografisch angelegten Album "Die
Unendlichkeit" in guter Form.
Erwachsenwerden
gilt nicht nur popkulturell als grundsätzlich lästige Sache. Zahllose Coming-of-Age-Filme
künden davon, dass es sich bei der Pubertät um eine Lebensphase handelt, in der
man durch besonders viel Mist muss. Mist bedeutet neben der Unverträglichkeit
von Alkohol oder dem Gemobbtwerden in der Schule auch hoppertatschige Annäherungsversuche
in romantischen Angelegenheiten und deren Scheitern - oder dass man es daheim
in der Provinz in einer Reihenhaussiedlung ausgerechnet mit den eigenen Eltern
zu tun bekommt. Achtung, davor warnt euch keiner: Nach der Abnabelung und dem
Auszug und dem Verschwenden der Jugend wird es in der städtischen Ferne auch
nur temporär besser. Stichwort: Versicherungswesen, der Weg zum Bankberater,
wir müssen jetzt Verantwortung übernehmen und tapfer sein! Und überhaupt ist
Haarausfall statt Pickeln auch keine Lösung.
Jugend als Weg
Die
Gruppe Tocotronic steht wie kaum eine zweite Band synonym für die Jugend und
ihre Begleiterscheinungen. Seit ihrem Auftauchen im Jahr 1995 und dem zum
Slogan neigenden, dilettantischen Schrammelrock früher Alben wie "Digital
ist besser" war es immer auch ein Statement, Tocotronic zu hören.
Verbunden mit modischen Verhaltensauffälligkeiten wie aus Papas Kleiderkasten
entwendeten Trainingsjacken ging es zentral um das Gefühl, bei einer Pausentschick
im Schulhof "anders" zu sein.
Ausgehend
von dieser Position, wird die Zeit nach der Matura nicht unbedingt leichter.
Erwachsen, wie geht das? Auf dem titellosen "Roten Album" lieferte
Dirk von Lowtzow noch im Jahr 2015 haltungsseitig zwar nachvollziehbare, für
seine damals 44 Jahre Lebenserfahrung aber doch etwas peinliche Texte
("Man kann den Erwachsenen nicht trauen / Ihr Haar ist schütter, ihre
Hosen sind es auch"). Musikalisch verbreiterte sich die Band über die
Jahre und mit der Eingemeindung des Professionisten Rick McPhail an der Gitarre
gerne auch in Richtung Rätselhaftigkeit und schliff die Ecken und Kanten ab.
Zart und aufgeräumt konnten Tocotronic dabei klingen, gerne auch gediegen - und
ebenso prätentiös wie manchmal erhaben. Bei (oder gerade wegen) aller Reibung,
die die Band dabei ermöglichte, erwies sie sich doch als der längerfristig
relevanteste Vertreter der sogenannten Hamburger Schule.
Mit
dem nun vorliegenden 12. Streich "Die Unendlichkeit" (Universal
Music) brechen Tocotronic mit alten Konventionen und genehmigen sich ein
musikalisches Erinnerungsalbum. Vom Anderssein am Land und dem dafür
Verprügeltwerden, von frühen und lebenslang großen Lieben, dem pickeligen
Aufbruch in die Studentendiaspora, ausgedehnten Ausschweifungsjahren, ersten
Verlusten und dem Tod als Ahnung zur Lebensmitte reicht die Palette. Der
musikalische Abwechslungsreichtum ist auch den Lieblingsbands der jeweiligen
Lebensphase geschuldet, vor deren Einfluss sich Tocotronic verneigen.
Punkistisches Poltern darf dabei ebenso auf dem Programm stehen wie Gitarrenpop
aus der Schule der Smiths.
Mit Schutzmantel
Das
Titelstück ist mäandernde Grandezza mit mystischem Anhauch. Gleichfalls mit
viel Hall fährt die rührende Auftaktsingle "Electric Guitar" über
frühen Sex und etwas Rock’n’Roll neben ganz viel Teenage Riot im Reihenhaus
auf. Dazwischen gibt es akustischen Autorenfolk und die ergreifende, zwischen
Hochkultur und Jungscharlager angesiedelte Ballade
"Unwiederbringlich" über einen jung verstorbenen Freund. Darin
befinden sich auch die sehr schönen und für alle mit dem Älterwerden oder -sein
Beschäftigten nachvollziehbaren Zeilen "Es gab noch keine Handys / Es war
alles Gegenwart / Die Zukunft fand ausschließlich / In Science-Fiction-Filmen
statt."
Mit
"Ausgerechnet du hast mich gerettet", einem innigen Schutzmantel in
Songgestalt, beweisen Tocotronic, dass ihnen im Spätwerk nicht zuletzt die
zärtlichen Songs besonders gut gelingen. Auch wenn der (Über-)Mut der Jugend in
zum Glück weniger, dafür wieder griffigeren Slogans auch heute noch ziemlich
stimmig auf den Punkt gebracht werden kann: "Alles, was ich immer wollte,
war alles."
(Wiener
Zeitung, 26.1.2018)
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