Freitag, Januar 19, 2018

Tausend Tränen tief

Wir müssen jetzt stark sein: Am Samstag ist der Tag des deutschen Schlagers.

Wenn Helene Fischer am 11. Juli im Wiener Ernst-Happel-Stadion auftritt, weil fünf (!) Konzerte am Stück in der hiesigen Stadthalle Mitte Februar wieder einmal nicht gereicht haben werden, oder die neueste TV-Show der staatlich anerkannten Musicaldarstellerin den gängigen Thomas-Gottschalk-Überziehungsrahmen von seinerzeit bei "Wetten, dass . . ?" ziemlich alt aussehen lässt, weil die Menschen nicht genug bekommen können von dem pickerten Zeugs mit einmal Akrobatikeinlage extra, kann man trefflich an der Menschheit verzweifeln.

Schöne Berge

Verzweifeln - es ist ein gutes Stichwort - und leiden, genau das will der Schlagerfan eher nicht. Obwohl es ihm vermutlich guttun würde, allein daheim im Dunkeln bei depressiv-verstimmten Feel-bad-Songs, in denen sehr oft das Wort "Death" vorkommt, endlich einmal mit inneren Dämonen konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Auch das darf festgehalten werden, wenn am Samstag Tag des deutschen Schlagers ist und im ORF blöderweise der Villacher Fasching mit "Prinzen, Pointen und Lei Lei" auf dem Programm steht, weil auch anderweitiges Qualitätsfernsehen seine Berechtigung hat.

Sieht man einmal vom Herzschmerz (der geht immer) und den privaten Tragödien der Akteure ab (Roy Black torkelt in einem Bierzelt in Niederbayern stockbesoffen über die Bühne), beschränkt sich das Leiden im Schlager vor allem auf die Statistenrolle der Nichtfans, die zwangsbeschallt werden. Achtung! Eine Stunde im Auto mit dem "Andrea Berg Partymix" kann zu Familientragödien führen. Die (historisch) von Dieter Thomas Heck anmoderierten, mit Hippe-Di-Hop, Ringe-Dinge-Ding oder roten Lippen, bei Hansi Hinterseer mit den schönen Bergen oder bei Andy Borg mit Sehnsucht, Glück und Herzklopfzeichen verbundenen Hits des Genres bevorzugen im Wesentlichen die harmonische Balance, die sich aus der Grundformel "Gute Laune mal Verdrängung ist gleich Systemstabilisierung" ergibt. Das Leben ist hart genug. Ein bisschen Spaß muss sein. Und immer, immer wieder geht die Sonne auf (okay, das ist von Udo Jürgens, und es geht bei allem schweren Pathos nach wie vor in Ordnung).

Ein Backlash

Die im deutschsprachigen Raum in der Nachkriegszeit von der Verdrängung, dem Wirtschaftswunder, Franz Antel und einer beschränkten Kanalauswahl um FS1 und FS2 begünstigte Kultur der Verspaßung und der leichten Muse, sie legte ein Fundament, das nicht nur stärker war als die dunkel schillernden Schlagerperlen dazwischen. Mandi und die Bambis blieben Mitte der 60er Jahre mit Songs wie "Sommertraum", "Nur ein Bild von dir" und der Großtat "Melancholie" eher ein Fall für die Nische (die Band Der Scheitel würdigte im Jahr 1994 mit dem tollen Album ". .. in einem Haus, das Liebe heißt" ihre Meriten). Auch die Durchschlagskraft des Rock ’n’ Roll in der Protovariante als "Beatmusik" konnte dem Schlager nicht schnell gefährlich werden. Heute darf es zwischen Helene Fischer und Andreas Gabalier wieder Backlash spielen. Unterhaltung, Verdrängung, Hoamat.

Einen seltenen - und den historisch mit Abstand unwahrscheinlichsten (Un-)Glücksfall - markierten im Jahr 1999 aber Blumfeld mit der Auftaktsingle ihres Albums "Old Nobody", "Tausend Tränen tief". Ausgerechnet die Diskursrockband der zwar der deutschen Sprache, aber den internationalen Idealen und der Ästhetik des Indie- und Grungerock verpflichteten Hamburger Schule sorgte für einen als Kopfstoß daherkommenden Tabubruch und setzte ohne Vorwarnung auf Schlagerelemente, die in einem Sprechteil von Sänger Jochen Distelmeyer ihren Höhepunkt fanden: "Ein Lied von zwei Menschen /Wie Liebe sich anfühlt/Wir fließen im Rhythmus/Der Sonne entgegen/Alles ist irdisch/Die Welt liegt im Dunkeln/Wir schweben im Ganzen/Die Nacht gehört uns." Das klingt so seltsam, wie es beim Wiederhören noch heute schillert und funkelt.

Auch bei Blumfeld war es mit dem schaurig-schönen (Schmerzens-)Schlager aber bald wieder vorbei. Heiter ritt in ihrem Werk "Der Apfelmann" ein - und wieder durfte das Publikum leiden.

(Wiener Zeitung, 20./21.1.2018)

1 Kommentar:

Renate Hoffer hat gesagt…

Großartiger Artikel! Spricht mir aus der Seele! <3
Vielen Dank!