Montag, Februar 05, 2018

Worauf heute noch Verlass ist

Die britische Pop-Institution Depeche Mode begeisterte in der ausverkauften Wiener Stadthalle mit Bewährtem.

Feste Gewohnheiten sind eine tolle Erfindung. Sie strukturieren den Tagesablauf, sie geben Sicherheit, sie sorgen dafür, dass wir uns zurechtfinden im Leben. Wichtig immer nur: Dazwischenkommen darf nichts! Ist das Frühstück nicht um 7 Uhr 54 verputzt - und erwischen wir deshalb den 8-Uhr-Bus nicht -, dann, ja dann haben wir ein Problem!

Der Stammtisch am ersten Dienstag des Monats, samt fixer Sitzordnung? So viel ist sicher. Österreich als System, der Ablauf der Sonnntagsmesse, ein Nuller im Lotto? Wie gehabt. Natürlich, und da fährt jetzt der Zug drüber, erklärt uns Niki Lauda im Fernsehen auch heute die Welt. Und vermutlich ist man in einer schnelllebigen Zeit der raschen Umbrüche beinahe froh, wenn zumindest noch auf irgendetwas Verlass ist.

Kukidentlächeln

Am Sonntagabend demonstrieren es auch Depeche Mode in der verlässlich ausverkauften Wiener Stadthalle und ihr erwartungsgemäß begeistertes Publikum: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Würde er sonst auf ein Konzert gehen, dessen Setlist er sich spätestens seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre weit im Vorhinein ausmalen kann? "Personal Jesus"? Selbstverständlich! "Never Let Me Down Again"? Jawoll! "Walking In My Shoes"? Niemals ohne. "World In My Eyes"? Man kennt die Antwort bereits. Dazu natürlich "Enjoy The Silence", "A Question Of Time" und "Stripped": Wir wünschen, Depeche Mode spielen, und selbstverständlich wird es den Soulsisters und Soulbrothers im Publikum auch diesmal eine sehr große Freude sein.

So geschmiert-vorhersehbar in lange perfektionierter Routine das Werkl alle vier Jahre live auch in deiner Stadt läuft: Dieses Mal hier in Vienna, Austria, hätten uns Depeche Mode fast überrascht. Zum Start der aktuellen Ochsentour gab es im Vorjahr nicht nur Material aus dem neuen und erstaunlicherweise politischen Album "Spirit", auf dem Depeche Mode das Ausbleiben der Revolution beklagen, dem sie in ihrer Veränderungsresistenz gewissermaßen selbst zuarbeiten, sondern auch Preziosen wie "Corrupt" in einer hübschen Live-Version oder eine Hommage an David Bowie mit einem Cover von "Heroes".

Das alles fiel zugunsten von Bewährterem in der Zwischenzeit zwar dem Rotstift zum Opfer. Dafür gibt es eine von Chef-Songwriter Martin Gore vor und nach viel strahleweißem Kukidentlächeln auf der Videowall zu Klavierbegleitung aufgeführte Akustikversion von "Insight", die in einer Art Schwerpunktprogramm gemeinsam mit "Barrel Of A Gun", "It’s No Good" oder "Useless" dem unterschätzten Meisterwerk "Ultra" späte Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Obsession, Depression

Damals im fernen Jahr 1997 befand sich die Band bekanntlich auf dem privat-persönlichen Tiefpunkt und kurz vor dem Aus. Nicht nur der auch heute noch nachdrücklich für Gänsehaut sorgende Göttersong "Home" über ein Ankommen, hinter dem sich der Tod versteckt, demonstriert allerdings einen bisher letzten allumfassenden Kreativhöhepunkt im Spannungsbereich zwischen Obsession und Depression.

Das Album "Exciter" von 2001 wird gewohnheitsgemäß ignoriert, als einzige Enttäuschung des Abends steht "A Pain That I’m Used To" in einer uninspirierten Remix-Version auf dem Programm, nachdem zum Auftakt mit "Going Backwards" der gesellschaftliche Backlash und eine Politik der Angst besungen wurden. Sänger Dave Gahan demonstriert danach schnell und unmissverständlich, dass er nicht nur nach wie vor ein fantastischer und heute bevorzugt strizzihaft auftretender Frontman ist, sondern mit 55 Jahren und schwerer Suchtvergangenheit auch noch erstaunlich vital. Hallo, hier folgt neben Hit auf Hit immer auch "Fit mach mit" in Form von Pirouettenwirbel auf Pirouettenwirbel!

Christian Eigner legt es dazu am Schlagzeug sportiv-rockistisch an (das hätte es früher nicht gegeben!). Andrew Fletcher klatscht, wie er das seit 1980 im Hauptberuf macht, für und mit uns in die Hände. Als Professionist sorgt Peter Gordeno an Keyboards und Bass für Sicherheit und Orientierung. Die von Artdirector Anton Corbijn eigens für die Tour gefilmten Videos bieten neben einer Auseinandersetzung mit den Themen Außenseitertum und Lust auch modernen Ausdruckstanz oder Tieraufnahmen im Close-up. "Cover Me" als einziger von Dave Gahan geschriebener Song des Abends kommt dann mit seinen Outer-Space-Sujets doch noch auf David Bowie zurück.

Ungebrochene Wirkung

Bei überraschend gutem Sound in der Stadthalle und für österreichische Verhältnisse ungewohnt sehr guter Stimmung wird das Konzert nicht erst ab einer toll aufpolierten Version von "Everything Counts" aus dem Album "Construction Time Again" (1983) zum Selbstläufer. "Enjoy The Silence" ist perfekter Pop - und "Walking In My Shoes" in aller katholischen Vermessung von Leid und Schuld und Sühne ein Dramolett mit ungebrochener Wirkung.

Rund zwei Stunden hat man am Ende mit einer Band verbracht, die ihren Fans so etwas ist wie der in "Never Let Me Down Again" besungene "Best Friend" in guten und schlechten Zeiten. Sicherheit und Halt im Weltschmerz. Manchmal ist auch heute noch auf etwas Verlass.

(Wiener Zeitung, 6.2.2018)

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