„Ein fragiles System“: Die österreichische Band Bipolar Feminin veröffentlicht das Debütalbum der Stunde.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit braucht es nicht nur für den Weg nach oben begleitende Maßnahmen. Abseits gewohnter Karriereschritte zwischen Einstieg, Umstieg und Aufstieg liegt die eigentliche Herausforderung ja eher im Gegenteil. Auch und gerade wer sich nach einer gefühlten Ewigkeit im Hamsterrad als geschlauchter Rest seiner selbst am absteigenden Ast befindet wie ein Fußballverein nach dem letzten verlorenen Kellerderby, muss sich zunächst einmal sammeln und orientieren. Aber wie?
Gepflegter verwahrlosen
Zum Glück biegt da gerade die österreichische Band Bipolar Feminin um die Ecke, um Neuankömmlinge nicht nur recht freundlich zu begrüßen. Nein, sie hat auch gleich den Leitfaden für das Kommende mit dabei: „Willkommen am Boden / Das heißt Party für dich!“ Es geht, kurz gesagt, darum, dass man jetzt ohnehin nichts mehr zu verlieren hat und sich deshalb am besten gleich in gepflegter Verwahrlosung üben kann. „Im Meer aus Tausenden Bierflaschen / Hab ich mich seit Tagen verirrt / Mit den Spinnen, die immer haschen / Schon über alles sinniert . . .“ Zwischen der Leistungsverweigerungshymne „Am Boden“ und der aktuellen Singleauskopplung „Tüchtig“ als Song gewordenem Abwehrkampf gegen die Selbstoptimierung geht es die Band dabei mitunter ironisch an. „Geh spazieren! Nimm ein Bad! Putz die Zähne! Iss Salat!“ Wobei Bipolar Feminin nicht zuletzt mit der persiflierten Lebensberatung hinter Songs wie „Struktur“ beinahe ein wenig an der eigenen Glaubwürdigkeit sägen.
Für das im Jahr 2018 noch im oberösterreichischen Ebensee gegründete Quartett um Frontfrau Leni Ulrich zeigt die Karrierekurve aktuell steil nach oben. Für ihr am Freitag erscheinendes Debütalbum hat sich die Band dagegen entschieden, es sich nach erfolgtem Umzug nach Wien in der hiesigen Suppe gemütlich zu machen. „Ein fragiles System“ wird selbstbewusst gleich auf einem deutschen Label veröffentlicht. Mit der Hamburger Indie-Institution Buback Records im Rücken gehen auch Zeilen wie „Fick dich ins Knie / Elbphilharmonie“ gleich noch viel lustiger über die Lippen. Der dazugehörige Song „Herr Arne“ adressiert der Band zufolge als „ironiefreier Tribut“ mit dem Tocotronic-Schlagzeuger Arne Zank übrigens einen Helden aus Zeiten des Kinder- und Jugendzimmers. Allerdings: Wer braucht noch Tocotronic, wenn er jetzt auch Bipolar Feminin haben kann?
Eine Urgewalt mit Gitarre
Die mit ihren energetischen Live-Auftritten schnell zum Geheimtipp gewordene Band machte spätestens im Vorjahr mit ihrer ersten EP „Piccolo Family“ auf sich aufmerksam. Man hörte eine ordentliche Krawallwatsche für das Patriarchat in Form des Songs „Süß lächelnd“ sowie mit „Fett“ („Ich bin enorm“) ein selbstbestimmtes Loblied auf Körperpositivität und Eigenliebe. Dazu gab Leni Ulrich die Frontfrau gewordene Urgewalt mit umgeschnallter Gitarre. Stress möchte man mit ihr aber eher keinen bekommen. Revenge-Songs wie das giftige „Matrose“ („Auf dem Weg zur Party / An deinem Auto vorbei / Meine Schlüssel in meiner Hand . . .“) oder das mit Schaum vor dem Mund gegebene und im Eiltempo abgefertigte „Sie reden so laut“ künden davon.
Im klassischen Band-Setup mit Gitarren, Bass und Schlagzeug, aber ohne Schnickschnack in Szene gesetzt, schließen die zehn Songs von „Ein fragiles System“ Post-Punk-Nachwehen und klassischen 90er-Jahre-Schlurf-, Schluder- und Slackerrock mit gesteigerten Popsensibilitäten und gewinnenden Hooklines kurz. Sehr gerne belegen aus diversen Effektgeräten hochgezogene Soundwände außerdem einen an der School of Rock erworbenen Shoegazing-Master. Dazu geht es in Stücken wie „Wie es ist“ („Es ist wie es ist wie es bleibt“), „Mami“ oder der heiteren Kapitalismuskritik „Attraktive Produkte“ um Systemimmanenz – und systemimmanente Erniedrigung.
Zu Hochform laufen Bipolar Feminin übrigens auch am Ende ihrer Kräfte und mit bloßem Standgas auf. Was mit dem Song „Kreis“ gemeint ist, wird jeder nachvollziehen können, der für seine Welt geblutet hat – und jetzt ganz einfach vom System ausgespuckt wird: „Ich fühl so viel, ich lach so laut / Einiges hat sich angestaut / Und wenn ich weine, weine ich, bis ich nichts mehr seh / Ich zeichne den Kreis, in dem ich mich dreh.“ Hallo unten! Unten ist das neue Oben.
Live am 6. Juni im
Wiener Fluc
(Wiener Zeitung, 17.5.2023)
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